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Titel
Wunschkinder. Eine transnationale Geschichte der Familienplanung in der Bundesrepublik Deutschland


Autor(en)
Roesch, Claudia
Reihe
Kulturen des Entscheidens (7)
Erschienen
Göttingen 2021: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
323 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Emeline Fourment, Political Science, Université de Rouen Normandie

Claudia Roeschs Buch ist eine deutsch-amerikanische Geschichte der Bewegung für Familienplanung, die von den 1950er-Jahren bis in die 1980er-Jahre reicht. Die Studie konzentriert sich auf den westdeutschen Verein Pro Familia, dessen Rolle für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (BRD) noch wenig bekannt ist. Im Mittelpunkt stehen sowohl Akteur:innen als auch Wissenszirkulationen zwischen dem deutschen Verein und seinen internationalen Geschwistern: die amerikanische Organisation Planned Parenthood und das internationale Netzwerk International Planned Parenthood Federation. Die Historikerin stützt sich vor allem auf die Akten des Pro-Familia-Verbandsarchivs, des Planned Parenthood National Headquarters und auf die Nachlässe der Mitgründer:innen der jeweiligen Organisationen (Hans Harmsen für Pro Familia und Margaret Sangers für Planned Parenthood). Auf dieser Grundlage entwickelt sie eine fundierte Analyse der beratenden Familienplanung und betont die zentrale Rolle von Pro Familia für die Verbreitung des Konzepts vom Wunschkind, das als ein Gegenmodell entworfen wurde zu den Narrativen über „ungewollte“ sprich „ungeliebte Kinder, die zukünftige Kriminelle oder gar Despoten werden konnten“ (S. 7). Im Rahmen dieser Familienplanung wurde Reproduktion zu einer Entscheidungsfrage entwickelt, die entweder von Expert:innen oder von Frauen anhand unterschiedlicher Wissensformen beantwortet werden sollte.

Im ersten Kapitel untersucht Roesch Kontinuitäten zwischen den Diskussionen über Geburtenkontrolle während der Zwischenkriegszeit und der in den 1950er-Jahren entstandenen transnationalen Bewegung für Familienplanung. Innerhalb der Forschungsdiskussion über das Verhältnis von Familienplanung und deren berühmtesten Vertreter:innen, Margaret Sanger (für die USA) und Hans Harmsen (für Deutschland), zur Eugenik kann Roeschs Analyse wichtige Punkte beitragen. Denn sie zeigt, dass sich beide Familienplanungs-Akteure in den 1930er- bis 1940er-Jahren sowohl aus Überzeugung als auch Opportunismus den Vorstellungen der sozialen Eugenik anschlossen.

Das zweite Kapitel geht auf die Entwicklung der Konsumgesellschaft in den Vereinigten Staaten im Rahmen der Familienplanung und des Wunschkindes ein. Denn mit den Ideen des „Wunschkindes“ und der aufmerksamen, lieben Mutter ging das Versprechen auf stabile Ehen und sozialen Aufstieg einher. Derart gut versorgte Kinder galten für das nationale Wachstum als Garanten einer friedlichen Zukunft. Entgegengesetzt zur Figur des Wunschkindes erschien die Überbevölkerung als eine gesellschaftliche Bedrohung, die besonders im Ausland zu einem Hungerkrieg führen konnte. Die im dritten Kapitel dargestellten Anfangsjahre von Pro Familia verdeutlichen die besondere Rolle von Frauen für die Gründung der Organisation im Jahr 1952. Deutlich wird, wie Pro Familia in den 1950er-Jahren das Konzept des Wunschkindes in der BRD einführte und an einen westdeutschen konservativen Kontext anpasste. Familienplanung konnte hier nicht als ein Weg zum sozialen Aufstieg dargestellt werden, sondern wurde vielmehr zu einer rationalen medizinischen Maßnahme, die die Stabilität der Familien fördere. So fügte die Figur des Wunschkindes wissenschaftliches Wissen und das idealisierte Modell der Kernfamilie zusammen. Anschließend zeigt Roesch, wie bevölkerungsplanerische Politiken in der BRD und den Vereinigten Staaten durch den Bezug auf individuelle Freiheit und Selbstbestimmung auch in den 1960er-Jahren fortgeführt werden konnten. Planned Parenthood und Pro Familia führten Kampagnen, die hohe Kinderzahl für Armut verantwortlich machten. In den Vereinigten Staaten hat Planned Parenthood Schwarze und latinx Paare besonders gedrängt zu verhüten und teils gar sterilisiert. Soziale Bewegungen prangerten diese Politik an, was zu einer semantischen Veränderung führte, wodurch das individuelle Recht auf Familienplanung stärker als zuvor betont wurde. In Deutschland überzeugten Mitarbeiter:innen von Pro Familia vor allem Mütter in Obdachlosensiedlungen und Frauen mit Behinderung, permanentere Verhütungsmittel (z.B. Spirale, Sterilisierung) zu benutzen. Sie stützten sich dabei auf Argumente, in denen die eugenische Normen in eine Semantik der individuellen Selbstermächtigung überführt worden waren.

Das fünfte Kapitel zeigt die zentrale Rolle von Pro Familia für die Verbreitung der (Anti-Baby-)Pille in der BRD. Während Planned Parenthood sich lange weigerte, über die Nebenwirkungen der Pille zu berichten, sprach Pro Familia in den 1960er-Jahren öffentlich darüber und empfahl sie nur verheirateten Müttern, die keine Kinder mehr wollten. Dies trug dazu bei, dass die Zahl der Nutzerinnen geringer ausfiel. Roesch zeichnet nach, wie Anfang der 1970er-Jahre Pro Familia seine Position veränderte und dazu überging, gegen die Meinung der Bundesärztekammer, eine Verschreibung der Pille für Jugendliche zu befürworten. Folgerichtig schließen sich hieran Ausführungen zur Wissensproduktion über Verhütungsmittel in der Frauenbewegung der Vereinigten Staaten und der BRD an. In ihrer Analyse der vier ersten Fassungen des Gesundheitshandbuchs Our Bodies Ourselves (OBOS) sowie der zwei Fassungen des Frauenhandbuchs der Berliner Gruppe „Brot und Rosen“ hebt Claudia Roesch auf aufschlussreiche Weise, in welcher Spannung die Entscheidungsfindung bei Fragen der Reproduktion zwischen einer kollektiven politischen Ausrichtung auf der einen Seite und einer individuellen pragmatischen auf der anderen Seite. Aktivistinnen der Frauenbewegung eigneten sich oft wissenschaftliches Wissen über Verhütungsmittel an, um diese einander zu empfehlen. Die Ebene einer solchen pragmatischen Entscheidungsfindung konnte aber auch abgelehnt werden, wenn die politische Dimension der Verhütung stärker betont wurde. Aktivistinnen übten Kritik an der Macht von Ärzten und an den rassistischen Bedingungen während der Entwicklung der Pille, die in den 1950er-Jahren an puerto-ricanischen Frauen ausprobiert worden war. Aus politischer Überzeugung wurde deshalb die Pille mitunter abgelehnt und wurden mechanische Verhütungsmethoden, die keiner medizinischen Intervention bedurften, bevorzugt.

Im siebten Kapitel wird das Engagement von Pro Familia im Rahmen des Abtreibungsrechts untersucht. Im Jahr 1974 begann die Organisation an dem „Modellversuch“ der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung teilzunehmen, der eine Pflichtberatung zum Schwangerschaftsabbruch vorsah. Dadurch wurde der Verein zu einem Schlüsselakteur der Umsetzung des reformierten § 218, der 1976 in Kraft trat. Pro Familia stellte in dieser Phase zahlreiche neue Mitarbeiter:innen ein, die aus der Soziologie und der Pädagogik kamen und der Frauenbewegung nah standen. So entwickelte sich Pro Familia gleichzeitig zu einer Organisation mit Nähe zu sozialen Bewegungen und zu einem Dienstleister des sozialen Staates, was zu Spannungen führte. Insbesondere gab es Konflikte mit den älteren männlichen konservativen Ärzten, die Anfang der 1980er-Jahre die Organisation verließen. Dadurch brach Pro Familia endgültig mit bevölkerungsplanerischen Vorstellungen.

Das achte Kapitel konzentriert sich auf die transnationale Bewegung von Abtreibungsgegner:innen, die sich in den 1980er-Jahren entwickelte. Anhand der Briefe, die Abtreibungsgegner:innen an Pro Familia schickten, zeigt Roesch, wie diese Bewegung ein eigenes selbst-referentielles Wissenssystem schuf, das sich auf wissenschaftliche Fakten, in eine wissenschaftliche Form verpackte Schätzungen, verfälschte Studien und bewusste Täuschungen stützte. Daraus entstanden Borschüren, Filme und Bücher, die zwischen den Vereinigten Staaten und Westdeutschland zirkulierten. Dieses Material sollte Frauen die „richtigen“ Informationen zur Verfügung stellen, um ihnen bei ihrer Entscheidung zu helfen. Damit wurde zwar bestätigt, dass Frauen über ihre Abtreibung selbst entschieden, zeigte aber auch, dass reproduktives Wissen ein Kampffeld darstellte.

Claudia Roeschs Studie ist ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der Reproduktion und der Sexualität und damit zum Kulturwandel der 1960 bis 1970er-Jahre in der Bundesrepublik. Die Studie ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Hervorzuheben ist insbesondere die Art und Weise, wie die Historikerin Kontinuitäten und Ambivalenzen des gesellschaftlichen Wandels zwischen der Weimarer Republik und der BRD herausstellt. Eine weitere Stärke der Arbeit liegt in der transnationalen Perspektive. Zu bedauern ist hier lediglich, dass es den europäischen transnationalen Netzwerken nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, die auf andere Transfers verweisen. Die Geschichte der französischen Familienplanung zeigt etwa, dass reproduktives Wissen von Großbritannien nach Kontinentaleuropa kam.1 Reproduktives Wissen zirkulierte auch in den internationalen Treffen der Frauenbewegung wie zum Beispiel dem internationalen Frauenkongress, der vom 13. bis zum 15. November 1974 in Frankfurt am Main stattfand.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Claudia Roeschs Buch für das sich formierende Forschungsfeld zur Frauengesundheitsbewegung in der BRD besonders interessant ist.2 Ihre Analyse zeigt, wie verflochten die Frauengesundheitsbewegung mit bereits existierenden Organisationen wie Pro Familia war, und stellt damit einen wichtigen Befund dar. Unklar hingegen bleibt vor diesem Hintergrund aber, warum Roesch das Feminist Health Center von Carol Downer in Los Angeles aus ihrer transnationalen Analyse ausschließt, obwohl sie von den Kontakten zwischen den Berlinerinnen und diesem Zentrum spricht (S. 192). Darüber hinaus lässt sich fragen, ob Abtreibungsgegner:innen wirklich die ersten waren, die das wissenschaftliche Wissen im Bereich der Reproduktion in Frage stellten (S. 292). Und schließlich wäre das Verhältnis der Frauenbewegung zur Wissenschaft auszudifferenzieren: Es ist richtig und wichtig zu betonen, dass die Frauenbewegung sich nicht pauschal gegen die Wissenschaft konstituierte. Dennoch entwickelte zumindest in der BRD ein Teil der Frauenbewegung ein eigenes Wissenssystem, das Wissenschaftlichkeit als Kriterium in Frage stellte. So wurde zum Beispiel die Aufwertung von traditionellen matrilinear vermittelten Wissensformen im zweiten Frauenhandbuch der Berliner Gruppe Brot und Rosen bis in den 1980er-Jahren von manchen Aktivistinnen verteidigt, die sich teilweise in den 1980er-Jahren der spirituellen Frauenbewegung anschlossen.3

Die Nachfragen schmälern aber nicht die Leistung des Buchs. Claudia Roeschs Studie eröffnet eine neue Perspektive für die Geschichte der Frauenbewegung und der Sexualität in der BRD, die, so bleibt zu hoffen, weitere Forschungen nach sich ziehen wird.

Anmerkungen:
1 Bibia Pavard, Si je veux, quand je veux: contraception et avortement dans la société française. 1956–1979, Rennes 2012; Lucile Ruault, Histoires d’A et méthode K. La mise en récit d’une technique et ses enjeux dans le mouvement pour l’avortement libre en France, in: Sociétés contemporaines 121 (2021), S. 139–170.
2 Isabel Heinemann, Frauen und ihre Körper. Reproduktives Entscheiden in den Ratgebern der US-amerikanischen und west-deutschen Frauengesundheitsbewegungen, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 69 (2021), S. 125–137; Imke Schmincke, Von der ‚Natur der Frau’ zur feministischen Körperpolitik. Historische und soziologische Perspektiven auf Körper und Geschlecht, in: Angela Treiber / Rainer Wenrich (Hrsg.), KörperKreativitäten. Gesellschaftliche Aushandlungen am menschlichen Körper, Bielefeld 2021, S. 71–88. Siehe auch das Forschungsprojekt von Karen Nolte und Ulrike Klöppel „Frauen in verrückten Lebenswelten“, https://www.medizinische-fakultaet-hd.uni-heidelberg.de/einrichtungen/institute/geschichte-und-ethik-der-medizin/forschung/gender-medizin (08.11.2022), und dasjenige von Anne Kwaschik und Émeline Fourment „Zwischen Politik und Spiritualität“, https://www.geschichte.uni-konstanz.de/forschung-geschichte/kwaschik/forschung/forschungs-und-lehrprojekte/ (08.11.2022).
3 Susanne Schröter, Identität und Spiritualität in einer feministischen Subkultur, in: Ulrike Krasberg (Hrsg.), Religion und weibliche Identität, Magdeburg 1999, S. 267–281.

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